Re: DRINGENDE INTERPRTATION VON DER BALKONSZENE (2.Akt, 2. Szene-Romeo und Julia)


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Geschrieben von Nele am 17. Mai 2002 11:06:43:

Als Antwort auf: Re: DRINGENDE INTERPRTATION VON DER BALKONSZENE (2.Akt, 2. Szene-Romeo und Julia) geschrieben von Loni am 17. Mai 2002 03:49:24:

Da wäre so viel zu schreiben und so wenig Zeit... :)

[...]
>Der Chefarzt unterscheidet sich im Niveau hier nicht von einem
>Kanalreiniger. Derartige technokratische Karriere- und
>Selbstvermarktungsstrategien enden im absoluten Banausentum und damit in
>der Selbstzerstörung dessen,

Na, das halte ich jetzt aber doch für eine Reproduktion bildungsbürgerlicher Ideologie. Ich habe wirklich genug Leute kennengelernt, die weder ein Abitur noch irgendwelche literarischen Kentnisse gehabt haben, was sie aber nicht daran gehindert hat, lebenskluge und beeindruckende Persönlichkeiten zu sein. Umgekehrt habe ich Akademiker kennengelernt, die sehr von ihrer literarischen Bildung eingenommen sind und sich auf einem menschlichen Niveau von Anstandslosigkeit bewegen, das nur noch ekelerregend ist. Ich meine schon, daß man die ideologische Behauptung einer Kausalität zwischen klassischer Bildung und menschlichen Idealen als solche durchschauen sollte - so etwas führt ja gerade zu der reflexhaften Rede vom automatisch niveaulosen Kanalarbeiter.

Zu dem restlichen "Zustimmungsteil" möchte ich noch anmerken, daß ich keinesfalls wertende Urteile abgegeben habe, sondern versucht habe, den Zustand zu erklären, wie ich ihn sehe. Ich sage *nicht*, daß das Schülerverhalten gut oder verwerflich ist, ich sage, daß es im heutigen gesellschaftlichen Kontext erklärbar ist.
[...]

>Widersprechen:
>Das klingt alles ganz toll, was Du da analysierst, und ist auch
>sicher irgendwie richtig. Das Abendland geht nicht unter, nein, es
>prosperiert immer irgendwie weiter. Aber der Markt und das Marktkonforme
>ist mit dem Stichwort "Abendland" eigentlich nicht gemeint. Es scheint
>vielmehr so, als gingen einige der mühsam eroberten abendländischen
>"bürgerlichen" Ideen unter, die es wert wären, weitergetragen zu werden.

Dochdoch, mit dem "westlichen Abendland", meinethalben auch "christlichen Abendland", meine ich genau die Gesellschaftsform, die sich in Europa innerhalb der letzten 500 Jahre entwickelt hat und von dort aus in die Welt exportiert wurde. Und die definiert sich vorrangig über die Säkularisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft. Das schließt ja nicht die gleichzeitige Entwicklung von Ideologien zur Beschreibung einer solchen Gesellschaft aus. Aber ich betrachte das Verhältnis zwischen Ideologie und materieller Welt nicht aus idealistischer Perspektive (wobei ich jetzt "Idealismus" im philosophischen Sinne meine), ich halte Ideologie für eine Verhandlungssache. Nehmen wir das demokratische Ideal der individuellen Freiheit und Gleichheit. Das ist ein bürgerliches Ideal aus dem Wertekanon der Aufklärung. Diese steht aber wiederum vor dem Hintergrund einer materiellen Entwicklung: im 18. Jahrhundert war im Zuge der Staatsentwicklung und den sich verändernden wirtschaftlichen Verhältnissen der Ständestaat überlebt. Die Brüche, deren Anfänge schon im 16. Jahrhundert zu beobachten sind (die Früh*moderne* heißt ja nicht umsonst so), waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr zu überbrücken, das "christliche Abendland" erlebte eine gründliche Umstrukurierung: die amerikanische Revolution und die französische Revolution. Intellektuell wurde das durch einen Wechsel von der vormodernen Ideologie der ständischen Ungleichheit des Menschen hin zur bürgerlichen Ideologie der Moderne begleitet, die seine prinzipielle Gleicheit postuliert. Beides ist notwendig: die Ungleichheit muß aufgehoben werden um die Übernahme der Macht in einem Staate ideologisch überhaupt rechtfertigen zu können. Das Ideal der individuellen Freiheit beschreibt zuerst einmal das wirtschaftlich frei agierende Individuum, das zu seinem eigenen Besten und Nutzen haushalten kann, und eben nicht für den Fronherren, an den es aus ideologischen Gründen gebunden ist. Die Einschränkung der bürgerlichen Freiheit erfolg wiederum die Vernunft, also dem Streben nach dem Besten für alle - wiederum ein letztendlich ökonomische Dialektik.

Daß, das ganze nicht ohne Brüche abgeht, ist ebenfalls klar. Wie frei sind in der amerikanischen Demokratie des 18. Jh. die nicht-protestantischen nicht-weißen nicht-Männer? Gleiches gilt natürlich für Europa. Wie frei sind die Arbeiter? Es gibt langfristige Prozesse der ideologischen Veränderung und Übergänge. Schon im 16. Jh. begann den Zeitgenossen die Problematik der Ständeideologie, des "elisabethanischen Weltbildes" bewußt zu werden. Erbitterte Auseinandersetzung über z.B. das Widerstandsrecht - Monarchomachen gegen Protoabsolutisten. Aber auch das stützt meine These, daß es in der Frage der Ideologie und der Frage, was das "christliche Abendland" eigentlich ist, um eine diskursive Verhandlungssache geht, und *nicht* um das Ringen um metaphysisch verortete Ideale. Die sind nämlich meiner bescheidenen Meinung nach - und das sehe ich in der Geschichte bestätigt - potentiell beliebig.

>Ich glaube nicht an den zwanghaften Gang der Geschichte,

Ich auch nicht. Marx (ebenso wie sein Vorläufer Hegel) hatte offensichtlich Unrecht, was das Wirken von historischen Gesetzmäßigkeiten angeht. Bei Marx sehe ich das Problem darin, daß er die Möglichkeit von Nicht-Ideologie voraussetzt, also einen Endpunkt der Geschichte in einem ideologiefreien Zustand sucht. Das ist aber nicht möglich. Geschichte ist also nicht teleologisch, also nicht auf einen Endpunkt zielend vorherbestimmt. Daß sie potentiell beliebig ist, ändert aber nichts daran, daß ihre Entwicklung erklärbar ist und einer Ideologie-, bzw. Diskursanalyse unterworfen werden kann.

>und ich wehre mich dagegen, daß das Individuum lediglich
>nicht-selbstverantwortliches Opfer seiner gesamtgesellschaftlichen
>Verhältnisse ist, wie du es darzustellen scheinst.

Das ist jetzt natürlich eine prinzipielle Frage. Ich gehe davon aus, daß es das Konzept des individuell freien Subjekts, das mit anderen Subjekten gleich ist, als ewiggültiges Ideal nicht gibt. Das ist eine relativ neue Konstruktion, und ich sehe keinen zwingenden Grund, warum es nicht im weiteren Fortlauf der Geschichte von anderen Konzepten abgelöst werden sollte. Das Individuum ist eben das Individuum, wie es sich in einer Gesellschaft ausformt. Deswegen kann ich nicht von "Opfern" reden. Nebenbei bemerkt, ich verfolge hier eine durchaus demokratische Vorstellung: das Ideal einer Gesellschaft ist letzendlich das, was die Mehrheit der Gesellschaft will. Daß es zu Brüchen mit ideologischen Forderungen kommt, ändert ja nichts an den empirischen Befunden. Bloß, weil in den Rahmenrichtlinien verschiedener Kultusministerien von dem Wert der Literatur geredet wird, muß das ja nun wirklich nicht für das Gros der Gesellschaft gelten. Ich schätze Literatur sehr, aber ich kann hoch und runter springen, wie ich will, und trotzdem gibt der von dir zitierte Chefarzt eine realistische Sicht der Dinge ab.

>Aber wenn es denn doch so wäre, wenn du recht hättest, was ja durchaus
>sein kann - ja, das wäre aber doch dann gerade der Untergang des
>"Abendlandes", oder? Über den zu jammern wäre.

Warum? Die Säkularisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft hat doch ihre Vorteile. Ich habe eine Zentralheizung, immer lecker zu essen und einen Computer, vor dem ich mir feiste Gedanken über die Geschichte, Philosophie und Kultur machen kann. Gar nicht zu erwähnen, daß mir die bildungsbürgerliche Ideologie immerhin die Möglichkeit eröffnet hat, zwei nicht-utilitaristische, "unnütze" Fächer zu studieren, nämlich die Anglistik und die Geschichte. Das Land Hessen war in seiner "bildungsbürgerlichen Verblendung" sogar so nett, mir über ein Stipendium eine Promotion zu finanzieren. Und alles nur, weil das kapitalistische Wirtschaftssystem genug Überschuß produziert (jedenfalls momentan noch), um sich die bürgerlichen Ideale vom Guten, Wahren und Schönen institutionell zu leisten. Was hätte ich also zu jammern?

> Galy Gay schickt eine Postkarte mit schönen Grüßen.

? Das verstehe ich jetzt nicht.

Mit bildungsbürgerlichen Grüßen,

Nele :)





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